Baltische Reise: Konstrukte

Gruppenreisen und soziale Konstrukte

Zehn Tage unserer Baltikumreise waren als Radtour mit einer Gruppe geplant. Das Konzept von Wama-Tour ist interessant: Teilstrecken von 40-60km pro Tag werden (individuell) mit dem Fahrrad zurückgelegt, längere Strecken werden mit dem Begleitbus überbrückt. Das Gepäck wird mit dem Bus transportiert. (Siehe auch: Mit WAMA Tour unterwegs im Baltikum)

Unsere gesamte Gruppe bestand aus 12 Personen und zwei Fahrern. Beim ersten Zusammentreffen stellte sich heraus, dass acht Frauen die Reise vermeintlich exklusiv für sich gebucht und sich daher als eigene Gruppe definiert haben. Das anfänglich große Abgrenzungsbedürfnis zeigte sich in minimalem Sozialkontakt zu uns restlichen vier Reisenden. Seitens des Reiseveranstalters wurde diese „Exklusivreise“ anders interpretiert: Ein 8-Personen-Tisch und ein 4-Personen-Tisch beim Abendessen und Frühstück in den Hotels, ein Auto mit 8 Personen und eines für 4 Personen. Manche der „Anderen“ brauchten ein paar Tage um zu realisieren, dass wir die gleiche Reise gebucht hatten. Wir „anderen“ vier – meine Frau Hermine und ich sowie zwei Berlinerinnen – wurden automatisch auch zu einer Gruppe, die konstante Tisch- und Bus-Gemeinschaft führte zu intensiveren persönlichen Gesprächen. Eine interessante Fallstudie zu sozialen Konstrukten: Jede Gruppe machte sich Gedanken über die „Anderen“. Welche der beiden Gruppen die Leute in den Hotels als die „Exklusiven“ angesehen haben, haben wir nicht erfahren.

Nach einigen Tagen lockerte sich die strenge Gruppenbildung. Teils wegen des Lagerkollers der größeren Gruppe, teils weil eine Hotelterasse keine räumliche Trennung erlaubte, teils weil allen klar war, dass das Gruppenverhalten etwas merkwürdig war. Schließlich waren (fast?) alle über 50 und höchstinteressante Menschen. Höhepunkt der Gruppenauflösung war eine gemeinsame zweistündige Überfahrt mit einem kleinen Boot. Fazit am letzten Tag im Schanigarten in Vilnius: Schade, dass wir uns nicht schon früher besser kennen gelernt haben.

(M)eine Vorstellung über eine Stadt konstruieren

Gibt es ein gutes Konzept für Stadtführungen? Bei der gebuchten Baltikum-Reise waren Stadtführungen in Tallinn, Riga und Vilnius inkludiert. Sie dauerten jeweils 3-4 (!) Stunden.

Der Führung in Tallinn gingen bereits drei privat verbrachte Tage in Tallin voraus. In dieser Zeit hatten wir längst die Stadt erkundet. In Riga wurden wir durch die Jugendstil-Gegend geführt, der politische Zynismus der Führerin war anfangs interessant, allmählich aber nervig. Die vielen Details über Jugendstilarchitekten waren nicht aufzunehmen und für uns nicht relevant. Die Führung in Vilnius war erträglicher, wahrscheinlich, weil wir sie nicht mehr ernst genommen hatten.

Anstelle der allgemeinen Informationen über Land und Stadt, die in jedem Reiseführer nachzulesen sind, interessieren mich mehr die aktuellen Themen: Was sind die Themen der Stadt heute, welche Konzepte, Ziele, politischen Diskussionen gibt es. Wie geht man mit öffentlichen Raum um, welche Rolle spielt die Jugend, die Kunst. Welche Veranstalter gibt es. Was hat sich in Vilnius durch den Titel Kulturhauptstadt geändert? So kann ich mir meine Vorstellung einer Stadt konstruieren. Ein sinnvoller Bezug zur Stadtgeschichte ergibt sich dadurch automatisch und die Inhalte blieben im Gedächtnis.

Zu all diesen Bereichen erwarte ich mit weitgehend wertfreie Information. Ich erinnere mich an eine Stadtführung in Freistadt, die ich zufällig an der Stelle des Mahnmals für die letzten 11 Opfer des Faschismus „belauscht“ habe: Die suggestive Manipulation, dass Sie sicher selbst merken, dass dieses Mahnmal hier nicht her passe, etc. Anstatt die Idee des Mahnmals zur Sprache zu bringen, die Einladung an KünstlerInnen zur Einreichung und insgesamt ein paar Aspekte aus der Zeit um 1945 und danach. Warum es 50 Jahre gebraucht, der Opfer sichtbar zu gedenken. Zur Frage, warum genau dieser Entwurf verwirklicht wurde und warum er zum alten Stadtbild passt, hat die Jury eine ausführliche Erklärung abgegeben, auch darüber könnte man sprechen. Dann kann ich mir eigene Gedanken machen. Eine Stadt soll mir auf verschiedenen Ebenen Anregungen geben, mein Bild der Stadt zu konstruieren.

Fotogalerie: Das Mahnmal in Freistadt

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