Welche christlichen Werte?
Immer wieder ist bei besonders konservativen und rückwärts gewandten Christen die Rede vom notwendigen Erhalt der christlichen Werte. Bei genauerer Betrachtung ist nicht ganz klar, was da für christliche Werte gehalten wird: Ist es der autoritäre Gehorsam und die Gesellschaftsordnung des Feudalsystems? Oder das römische Rechtsdenken?
Eine christliche Gesellschaft gibt es eigentlich nicht, weil sich das Christentum laufend wandelt und den Gesellschaften anpasst.
Das Christentum hat sich aus dem Judentum gebildet (Jesus, Gottesbild, Tradition) und bereits zu Beginn (Paulus) mit dem philosophischen Denken der Griechen (Hellenismus) auseinander gesetzt. Die Dogmen über die menschliche und göttliche Natur, auch die Jungfrauengeburt, sind Ergebnis großer philosophisch-theologischer Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund des Hellenismus.
Geschehen ist das im römischen Reich. In der Verbindung mit dem römischen Kaisertum wurde das ausgeprägte römische Rechtsdenken ins Denken der christlichen Kirchen übernommen. Ein Relikt dieses römischen Rechtsdenkens ist der aktuelle Codex der römisch-katholischen Kirche mit etwa 1800 Paragraphen, in denen (fast) alles klar geregelt ist. Zur Erinnerung: Das Judentum ist mit etwa 600 Regeln ausgekommen, das Judentum wurde als “Gesetzesreligion” diffamiert.
Nach dem Zerfall des römischen Reiches hat sich die abendländische Kirche in das Feudalsystem der germanischen Völker inkulturiert und die hierarchischen Gehorsamsstrukturen übernommen. Ob feudale Strukturen der biblischen Botschaft Jesu entsprechen, sei in Frage gestellt.
Als Folge der europäischen Religionskriege zwischen römisch-katholischen und protestantischen Christen konnten sich Aufklärung, Menschenrechte, Toleranz und Demokratie durchsetzen. Reichlich spät, nämlich in den 1960er Jahren beim 2. Vatikanischen Konzil, versöhnte sich die römisch-katholische Kirche mit diesen Werten. Aber nur halbherzig. Die Erkenntnis, dass diese Werte der christlichen Botschaft näher kommen als das germanische Feudalsystem, ist noch nicht bei allen Amtsträgern und Gläubigen angekommen. Daher die verbitterten Auseinandersetzungen um Bischofsernennungen, kirchliche Lehrverbote, Fragen der Moral und der Stellung der Frau. Durchsetzen wird sich wie immer die Gegenwart. Denn eine Kirche, die im vergangenen Feudalsystem verankert bleibt, hat langfristig keine Chance ernst genommen zu werden.
Der Blick der ängstlichen Wertebewahrer ist nicht kritisch genug und reicht nicht weit genug zurück zu den Anfängen des Christentums.