Entschleunigung beim Lehren und Lernen
Ein zweites Problem unseres Bildungssystems: zu schnell sollen zu viele Inhalte “gelernt” werden. Wenn man da noch von “lernen” reden kann. Ein guter Teil des Lernens wird im klassischen Unterricht ausgelagert: an Hausübungen (die nur teilweise selbst erledigt werden), an Nachhilfe-Lehrer/innen und ein bestimmter Teil dieses ausgelagerten Lernens findet eben gar nicht statt, weil es ganz einfach in harter Konkurrenz zur Freizeit steht.
Zudem werden aufgrund technischer Hilfsmittel zu viele Kopien oder elektronische Unterlagen ausgeteilt, in der Hoffnung, dass diese vielen Unterlagen auch aufgenommen werden (können).
Bildung aber braucht Zeit.
Ich schlage vor, das Lernen wieder hauptsächlich in den tatsächlichen Unterricht zu verlegen: das bedeutet Übungsphasen und Phasen für Einzelarbeit, Teamarbeit: Die Schüler/innen organisieren sich selber in kleinen Gruppen und setzen sich selbständig mit den Aufgaben auseinander. Das führt zu erhöhter Lernaktivität, zu Diskussion und Argumentation. Zugleich kann ich als Lehrer bei Bedarf helfen und ich kann die Schüler/innen in ihrer Arbeit beobachten und ihren Wissensstand, ihr Engagement, ihre Lösungskapazität, etc. gut einschätzen.
Dieses betreute gemeinsame Üben hat noch den Vorteil, dass Schüler/innen ihr eigenes Lern-Tempo einschlagen können (wenn schlechtere Schüler/innen gemeinsam arbeiten) oder dass langsamere oder schlechtere Schüler/innen von besseren profitieren. Homogene Gruppen mit guten Schüler/innen können die Aufgaben schneller lösen und zu anspruchsvolleren Aufgaben vordringen und erfahren auf diese Weise Begabtenförderung.
Bei Bedarf kann ich mich als Lehrkraft einer einzelnen Gruppe etwas länger widmen und lernschwachen Schüler/innen noch einmal erklären, lernfreudigen Schüler/innen spezielle Anregungen geben.
Das betreute Üben sorgt meist für heitere und positive Lernstimmung – auch unmittelbar vor Schularbeiten. Dass allerdings auch auf diesem Wege nicht alle Schüler/innen eine entsprechende Lernbereitschaft zeigen, nehme ich zur Kenntnis, dafür gibt es viele zumeist persönliche Gründe, die nicht unbedingt am Unterricht und in der Schule zu finden sind. Der überwiegende Teil der Schüler/innen profitiert auf jeden Fall, und zwar interessanterweise auf allen Lern-Niveaus.
Meine Erfahrung bezieht sich vor allem auf den Mathematik-Unterricht der Oberstufe, kann aber auf alle Fächer ausgeweitet werden: Warum sollten nicht während des Fremdsprachenunterrichts auch Zeiten fürs individuelle Vokal-Lernen eingeplant werden? Oder zum Schreiben von Essays? Die geopferte Zeit lohnt sich, weil Lehrläufe verringert werden und durch die erhöhte Eigenaktivität das Gelernte gründlicher aufgenommen wird.
Solche Übungs- bzw. Lernphasen unterstützen die nötige Individualisierung des Unterrichts, verringern den ausgeübten Druck und erleichtern die nötige Entschleunigung. Und für Lehrende ist die Entschleunigung ein Faktor zur Burn-out-Prophylaxe. Bildung braucht Zeit.